Mit ihrer Einzelausstellung Forced Amnesia in der Kunsthalle Gießen inszeniert die luxemburgische Künstlerin Mary-Audrey Ramirez eine cleane, artifizielle Welt, welche die immer brüchiger werdende Grenze zwischen dem physischen und digitalen Raum sowie zwischen natürlichen und maschinell erzeugten Elementen thematisiert.
Spielerisch umkreist sie die zunehmenden mentalen Ängste unserer Zeit, in der die rasant fortschreitende Technik den Menschen an vielen Stellen abzulösen droht. Ungeahnte Möglichkeiten Künstlicher Intelligenz (KI), welche die Limitation des menschlichen Geistes relativieren, treffen auf die Furcht, eine unkontrollierbare Kraft zu erzeugen, in der die Abschaffung oder Unterwerfung des Humanen implizit ist. Auch wenn den geschaffenen Wesen in ihrer Fremdartigkeit ein unheimliches Moment innewohnt, betont Mary-Audrey Ramirez das kreative Potenzial von KI, insbesondere von Text to Image (dt. Bild-zu-Text)-Generatoren.
Ramirez erschafft für die Ausstellung einen neuen Werkzyklus. Im Zentrum des Schaffens stehen digitale Techniken und Wesen, die aus einem Computerspiel entsprungen zu sein scheinen. Ihre Installationen erwecken den Eindruck, sich inmitten eines Games zu befinden. Die Kontrastierung von Fantasie und die Sehnsucht nach einer direkten Verbindung zwischen der digitalen und der physischen Welt sind integrale Bestandteile ihrer Praxis. Dabei wohnt ihren Werken eine endzeitliche Schönheit inne, in der das ein oder andere Mal ein subtiler Humor hervorblitzt. Die Ausstellung in der Kunsthalle Gießen entsteht in Kooperation mit dem Casino Luxembourg – Forum d’art contemporain, wo sie vom 02.02. (Eröffnung) bis zum 05.05.2024 gezeigt wird.
Mit dem Titel Forced Amnesia (dt. Erzwungene Amnesie) nimmt Ramirez Bezug auf die Theorie des selbst herbeigeführten Vergessens, um traumatische Erlebnisse aus dem eigenen Bewusstsein zu verbannen. Durch aktiven Zwang, Ereignisse zu verdrängen, wird der funktionell am Gedächtnis beteiligte Hippocampus gestört und eine reversible Amnesie kann folgen. Zudem kann sich der Begriff Forced Amnesia auf das kollektive Auslöschen von Kulturen und Religionen beziehen. Hierbei steht die Beeinflussung der Geschichtsschreibung im Vordergrund. Die intensive Auseinandersetzung mit Denkansätzen abseits des Mainstreams sind Teil von Ramirez‘ künstlerischer Praxis und offenbaren ein vielschichtiges Werk. Sie verwendet Ausstellungstitel bewusst und integriert sie in ihre Arbeit, wodurch der Titel Forced Amnesia auf blinde Flecken von KI hindeuten kann. Sofern KI auf bereits bestehenden Daten beruht, übernimmt sie auch deren bias (Neigung, Voreingenommenheit) und dominante Erzählungen, während sie andere Inhalte weniger berücksichtigt, sodass diese langsam in Vergessenheit geraten können.
Die inhaltliche Vielschichtigkeit des Titels entspricht den von Ramirez entworfenen Szenerien. Sie rufen diverse Emotionen hervor: Faszination, Unverständnis, Bewunderung und der Eindruck, einem Rätsel auf die Spur zu kommen – wie in einem Game bewegen sich die Besucherinnen in der Kunsthalle zwischen im Kampf zerteilten, reptilartigen Fragmenten, selbstgenähten Waffen und realistisch wirkenden insektenähnlichen Critters (engl., dt. Lebewesen). Komplementiert wird das Arrangement von einem eigens für die Ausstellung komponierten elektronischen, sphärischen Sound von dem klassisch ausgebildeten Violinisten und Grammy- prämierten Tontechniker, Komponisten sowie Produzenten Simon Goff (1988 Abergavenny, Wales).
Mit ihren Kreaturen weckt Ramirez bewusst Konnotationen an mythische, sagenumwobene Wesen, die Menschen seit der Antike gleichermaßen beängstigen und faszinieren. So ist das an einen Basilisken – den König der Schlangen – erinnernde Reptil analog zu einem mächtigen „(End)Boss“ in einem Game. Dieser fordert im Kampf alle Kräfte des gespielten characters heraus, was über den weiteren Verlauf des Spiels (z. B. den Aufstieg in ein neues Level) entscheidet. Das Setting im Ausstellungsraum ist auratisch aufgeladen und ähnelt in seiner visuellen Anmutung an ein ‚post battle‘ (dt. nach dem Kampf), in dem Opfer und Täterperspektive eng miteinander verwoben sind. Besonders fasziniert Ramirez dabei, wie Töten und Sterben in Games in Szene gesetzt und ästhetisiert wird.
Daneben zeigt die Künstlerin eine Reihe von auf Satin gedruckten Portraitbildern von insektenhaften Critters. Auch hier spielt Ramirez mit unserer Wahrnehmung: Sind die Abbildungen Fotografien? Zwar wirken die Kreaturen durchaus realistisch und erinnern an Makroaufnahmen von Insekten oder Kleinstlebewesen, entsprechen aber nicht der Natur. Ramirez generiert sie mit Text to Image (dt. Text-zu-Bild)-Generator. Durch das Einspeisen einer Vielzahl von Begriffen entstehen mithilfe von maschinellen Lernprozessen Bilder. Die KI wird auf der Basis von bereits existierendem Bildmaterial trainiert. In einem künstlichen neuronalen Netz – einem Computersystem, welches vom Aufbau einem menschlichen Gehirn ähnelt und mit Merkmalen künstlicher Intelligenz ausgestattet ist – werden Millionen von Bildern gespeichert, auch Kunstwerke, die mit stichwortartigen Beschreibungen versehen sind. Aus diesem Pool entnimmt die KI bestehende Bildelemente und fügt sie dem Textbefehl (engl. Prompt) folgend neu zusammen. Dieses Vorgehen wird als Synthography (engl., Bedeutung aus dem Griechischen: Synthesis: Zusammensetzung; graphein: zeichnen, schreiben) bezeichnet.
Ramirez versteht ihren Umgang mit dem Text to Image-Generator als Zusammenarbeit. So nutzt sie diese, um erste Versionen ihrer Critters zu erstellen, die sie im Anschluss weiterentwickelt oder in verschiedene Formen und Medien überführt. Mittels des Generators erstellt Ramirez künstliche (Lebe)Wesen und betont so den fließenden Übergang zwischen Natur und Technologie sowie digitalen, künstlich hergestellten und physischen, natürlich entstandenen Welten.
Die Künstlerin integriert in ihrer Praxis kulturelle Anspielungen, darunter Gaming-Referenzen. In ihren Ausstellungen entwickelt sie eine Game-Ästhetik zwischen physischer und digitaler Welt, wobei eine Differenzierung kaum noch möglich ist. Der Wunsch, Teil des Games zu sein, nimmt Überhand und die Wahrnehmung von faktischer Wirklichkeit wird getrübt. In ihren Arbeiten schafft Ramirez Verbindungen und Portale zwischen beiden Welten, die in ihren Arbeiten nicht als voneinander getrennte Sphären, sondern als eng miteinander verwoben aufscheinen.
Mary-Audrey Ramirez (1990 in Luxembourg) lebt und arbeitet in Berlin. Einzel- und Gruppenausstellungen u.a. Esch2022 + ARS ELECTRONICA, Luxemburg / Linz; Dortmunder Kunstverein; Kunsthalle Baden-Baden; Kai 10, Düsseldorf; Haus Mödrath, Kerpen; Margot Samel Gallery, New York City; Polansky Gallery, Prag und MARTINETZ, Köln. Sie erhielt mehrere Preise und Künstlerinnenresidenzen, u.a. im Jahr 2022 beim ISCP New York City, USA.
15.04. – 30.06.2023
Kunsthalle Gießen
Berliner Platz 1
35390 Gießen
PM: (c) Kunsthalle Gießen
Foto: Mary-Audrey Ramirez, PVC birth, digital image,
Courtesy of the artist + Martinetz Cologne