Roads not taken.
Oder: Es hätte auch anders kommen können

Ob der Fall der Berliner Mauer, das gescheiterte Misstrauensvotum gegen Willy Brandt oder die Konfrontation sowjetischer und amerikanischer Panzer am Checkpoint Charlie – es hätte auch anders kommen können. Aus dieser ungewöhnlichen Perspektive wagt das Deutsche Historische Museum ein Ausstellungsexperiment und zeigt Geschichte einmal anders als gewohnt: Im Mittelpunkt der neuen Ausstellung stehen zentrale Schlüsseldaten der deutschen Geschichte von 1989 bis 1848, an denen einschneidende historische Zäsuren auch eine andere Wendung hätten nehmen können. Dabei eröffnen sich Möglichkeiten, die sich jeweils im Grad ihrer Wahrscheinlichkeit unterscheiden – aber die allesamt gemeinsam haben, dass der tatsächlich eingetretene Verlauf ihre Realisierung verhindert hat.

Entlang von 14 markanten Einschnitten in der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts erkundet der Historiker Dan Diner die Potenziale von ausgebliebener Geschichte – verhindert von Zufällen, abgewendet durch Fehlzündungen oder dem Gewicht persönlicher Unzulänglichkeiten. Eben das, was geschichtsphilosophisch als Kontingenz verstanden werden kann. Dabei wird keine alternative Wahrheit verbreitet oder gar eine kontrafaktische Geschichtserzählung entworfen. Vielmehr geht es um die Ausstellung eines Arguments: wie wahrscheinlich wäre eine im Geschehen angelegte Entwicklung gewesen, die der Geschichte eine andere Richtung gegeben hätte? Dieser für ein historisches Museum ungewohnte Ansatz soll es ermöglichen, bekannte Fakten neu zu sehen und den Blick für die Offenheit von Geschichte als Ergebnis von Konstellationen und Entscheidungen, von Handlungen und Unterlassungen zu schärfen – um so die wirklich eingetretene Geschichte besser verstehen zu lernen.

Der Reigen dieser Einschnitte beginnt im Jahr 1989 mit der Friedlichen Revolution in der DDR und endet im Jahr 1848, als im Bereich Deutschlands erstmals ein demokratischer Aufbruch gewagt wurde. Die Ausstellung greift in umgekehrter Reihenfolge Themen wie Ostpolitik, Mauerbau, Kalter Krieg, Zweiter Weltkrieg und Holocaust, die Machtübertragung auf Hitler oder Erster Weltkrieg und Deutscher Krieg an entscheidenden Kipppunkten auf – um der Frage nachzugehen, wie knapp es war, dass es ganz anders hätte kommen können.

Zu sehen ist dies in künstlerisch inszenierten „Bildern“, die einen Blick auf die in der Situation angelegte, aber ausgebliebene historische Möglichkeit geben. Dem gegenüber stehen in einem „Wirklichkeitsraum“ die tatsächlichen historischen Ereignisse, die zu jenem Kippmoment führten, der sich im historischen Gedächtnis als Zäsur eingebrannt hat. Auf diese Art und Weise erscheinen Wegmarken wie die Stalinnoten von 1952, der Koreakrieg 1950 in Verbindung mit der Berliner Luftbrücke 1948/49, die missglückte Sprengung der Brücke bei Remagen 1945, das Attentat auf Adolf Hitler 1944, die Rheinlandbesetzung 1936, der Sturz von Reichskanzler Brüning 1932, die Revolution 1918, der Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 oder der Deutsche Krieg 1866 in einem neuen Licht.

9. Dezember 2022 bis 24. November 2024
Stiftung Deutsches Historisches Museum
Unter den Linden 2 | 10117 Berlin
https://www.dhm.de

Text: Deutsches Historisches Museum
Foto: Gemälde „Selbstporträt im Versteck“
Felix Nussbaum, Brüssel, Januar 1944, Öl auf Leinwand
© Deutsches Historisches Museum

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